Globaler Aktienmarktkommentar

„Wann ist es endlich so weit? Von Zinsen zu Wachstum …“

Für den Ausblick bis Ende 2023 ist entscheidend, ob die Märkte den Wendepunkt erreicht haben und sich die Aufmerksamkeit wieder von den Zinsen auf das Wirtschaftswachstum verlagert. Aus Anlegersicht stellen sich in diesem Zusammenhang drei zentrale Fragen. Erstens: Wie sehen die Markterwartungen in Bezug auf Zeitpunkt und Tiefe der erwarteten Rezession aus? Zweitens: Wie wird sich die Inflation in den nächsten Monaten entwickeln und droht eine Stagflation? Und drittens: Wie gut werden sich die Unternehmensgewinne in diesem Umfeld halten?

Die Anleger scheinen die kurzfristige Vertrauenskrise im Bankensektor inzwischen weitgehend verdaut zu haben. Das Tempo der geldpolitischen Straffung im Nachgang der Corona-Pandemie hat jedoch einige Schwachstellen offengelegt. Das Ungleichgewicht zwischen den Verbindlichkeiten und Vermögenswerten bestimmter spezialisierter US-Banken hat sich nicht zu einem systemischen Risiko ausgewachsen. In den USA hat die schnelle Lösung der First Republic-Problematik verhindert, dass größere Sorgen in Bezug auf die Sicherheit der Bankeinlagen aufgekommen sind. Und in der Schweiz kommt die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS einer staatlichen Rettung gleich. Das Vertrauen mag zwar gelitten haben. Mit einer durchschnittlichen Liquiditätsdeckungsquote von 160% und einer strukturellen Liquiditätsquote (Net Stable Funding Ratio, NSFR) von 130%1 sind die europäischen Banken aber immer noch gut aufgestellt. Auch profitieren sie von den zeitlich verzögerten Auswirkungen der Zinsstraffung gegenüber den USA. Die jüngsten Ereignisse zeigen jedoch, wie langwierig der Anpassungsprozess der Weltwirtschaft an rasch steigende Zinsen sein kann.

Konjunktur: Dunkle Wolken ziehen auf

In einer Phase geldpolitischer Anpassungen wird der Finanzsektor zum wichtigsten Transmissionsmechanismus, d. h. die Übertragung geldpolitischer Impulse auf die Realwirtschaft erfolgt in erster Linie über die Banken. In den USA ist die Geldmenge M2 acht Monate in Folge geschrumpft. In der Regel zeigen sich die Auswirkungen einer derartigen Verknappung der Geldmenge mit einer Verzögerung von vier bis sechs Quartalen. Wenn „Geld wieder etwas kostet“, hat das letztlich Folgen für Unternehmen und Verbraucher, auch wenn die realen Einkommen in einer ersten Phase der Inflationsverlangsamung steigen und den Konsum stützen werden.

Einige Konjunkturindikatoren haben sich zuletzt ebenfalls eingetrübt, wenn auch langsam. Die jüngsten Einkaufsmanagerindizes für das verarbeitende Gewerbe in den USA, der Eurozone, Großbritannien und China sind durchweg um einen Punkt gesunken. Dabei liegt der US-Index mit 47,1 weiterhin deutlich unter der Wachstumsschwelle von 50 Punkten. In den USA liegt die Arbeitslosenquote zwar weiterhin auf dem tiefsten Stand seit mehreren Jahrzehnten. Die jüngsten Arbeitsmarktdaten zeigen jedoch, dass sich das Tempo der Neueinstellungen verlangsamt. Doch während alle Frühindikatoren abwärts gerichtet sind, verzögert sich der Abschwung – bzw. eine potenzielle Rezession – durch die während der Pandemie zugeführte Überschussliquidität. Gleichzeitig laufen die Wachstumspfade zwischen den beiden asiatischen Giganten und den stagnierenden G7-Volkswirtschaften, wie so oft in der Vergangenheit, auseinander, da sich China wieder öffnet und Indien weiterhin ein gesundes Wachstum verzeichnet.

Gemessen an ihrem im ersten Quartal 2023 verzeichneten Wachstum dürften China und Indien im Jahr 2023 50% zum Wachstum der Weltwirtschaft beitragen.2

Trotz der invertierten Zinskurve – die häufig ein Vorbote einer Rezession ist – zeigen sich die Aktienmärkte immer noch relativ positiv gestimmt. Ungeachtet dieser widersprüchlichen Signale bleibt der Ausblick insgesamt durchwachsen. Für das Jahr 2023 haben die großen Volkswirtschaften die Gefahr einer Rezession erst einmal abwenden können. Die Aussichten für 2024 sind jedoch weit weniger klar

Inflationäres Umfeld

Mit der Abschwächung der Konjunkturdaten hat auch die Inflation nachgelassen. In den USA lag die Jahresrate des Verbraucherpreisindex (VPI) im März bei 5% und damit auf dem tiefsten Stand seit fast zwei Jahren.

Die jüngsten Probleme im Finanzsektor haben die Kreditvergabebereitschaft der Banken weiter verringert. Das von den europäischen Banken ausgereichte Kreditvolumen sank im ersten Quartal um 22%. Daher erwarten die Marktteilnehmer jetzt, dass im Juni mit 5% der Zinshöchststand erreicht sein wird und die US-Notenbank die Zinsen bereits im September wieder senken wird.

Die Kerninflation (ohne volatile Energie- und Lebensmittelkosten) ist jedoch zuletzt um 5,6% gestiegen. Das spricht dafür, dass der Preisdruck bei Dienstleistungen auch dann anhalten wird, wenn das Wachstum nachlässt – zumal die Lohnforderungen und -kosten, ein nachlaufender Indikator, in vielen Sektoren steigen. Damit besteht ein reales Risiko einer Stagflation. Die Zentralbanken stellt dies vor die schwierige Aufgabe, ihre Geldpolitik so auszutarieren, dass sie ausreichend restriktiv ist, um die Inflation einzudämmen, aber nicht so restriktiv, dass die Finanzstabilität gefährdet ist. Und natürlich besteht bei so vielen Unbekannten auch das Risiko eines geldpolitischen Fehlers. Die Markterwartungen tendieren derzeit zu einer Lockerung der Geldpolitik. Tatsächlich haben die Märkte eine erste Zinssenkung bis Juli dieses Jahres eingepreist, gefolgt von weiteren Lockerungen.

Bislang signalisiert die Rhetorik der Zentralbanken, dass die Währungshüter ihren geldpolitischen Kurs erst dann ändern wollen, wenn sie noch deutlichere Hinweise auf eine Abschwächung der Inflation sehen. In der Eurozone ist die Jahresrate der Gesamtinflation im April erstmals seit sechs Monaten gestiegen, von 6,9% im Vormonat auf 7%. Die Kerninflation war dagegen mit 5,6% leicht rückläufig. Bei der Abwägung des Risikos einer geldpolitischen Fehlentscheidung könnten die Zentralbanken immer noch zu dem Schluss kommen, dass eine Rezession und die damit verbundenen Einschnitte am Arbeitsmarkt der notwendige Preis für eine Eindämmung der zyklischen Inflation sind.

Unternehmensgewinne

Bei den Unternehmen überwiegen die negativen Gewinnrevisionen: Auf aggregierter Ebene wurden die Konsensschätzungen im ersten Quartal in Europa um -10% und in den USA um -8% gesenkt. Damit hat sich das Tempo der negativen Korrekturen seit dem Tiefpunkt im vierten Quartal 2022 zwar verlangsamt. Gedämpfte Prognosen werden von den Märkten jedoch direkt bestraft. In den USA haben bisher fast 70% der Unternehmen die Prognosen für den Gewinn je Aktie im ersten Quartal übertroffen, wobei die positive Abweichung im Schnitt 6% betrug, während die Umsatzprognosen um 2% übertroffen wurden. Das deutet darauf hin, dass die Margen im ersten Quartal nicht so stark gesunken sind wie befürchtet. Den größten Anteil an der starken Berichtssaison hatte der Technologiesektor.

In Europa ist die Berichtssaison noch voll im Gange. Bisher haben noch nicht einmal ein Viertel der Unternehmen ihre Ergebnisse vorgelegt. Es deutet sich jedoch eine ähnliche Entwicklung wie in den USA an, sodass die Nettogewinne durchaus höher ausfallen könnten als erwartet. Was den weiteren Jahresausblick angeht, zeigen sich viele der Unternehmen, mit denen wir sprechen, besorgt über die Auswirkungen der höheren Lohnkosten, auch wenn die Rohstoffpreise sinken. Für einige Unternehmen spielen Preiserhöhungen zur Wahrung der Margen (auch als Gierflation bezeichnet) eine wesentliche Rolle. Inwieweit die Unternehmen den Preisdruck ohne negative Auswirkungen auf ihre Umsätze weiterreichen können, wird entscheidend für die Margenentwicklung im zweiten Halbjahr sein. Angesichts der asymmetrischen Auswirkungen der Inflation auf Kosten und Einnahmen könnten Unternehmen, die Opfer einer solchen Gierflation werden – bei der sich steigende Preise überproportional auf die Volumina auswirken – Probleme bekommen. Das schwächere globale Wachstum wird sich im weiteren Jahresverlauf sicherlich in den Unternehmensergebnissen niederschlagen. Trotzdem kann es auch positive Überraschungen geben, von denen Anleger durch eine gezielte Titelauswahl profitieren können. So könnten beispielsweise die fortgesetzte Öffnung der chinesischen Wirtschaft und positive Wachstumszahlen aus Indien für gewisse positive Impulse sorgen.

Ausblick

Der anhaltend unsichere Ausblick sorgt weiterhin für eine erhöhte Volatilität an den Aktienmärkten. Aktuell scheint viel dafür zu sprechen, dass es zu einer Rezession kommt. Angesichts der extremen Maßnahmen, mit denen die Zentralbanken auf die Pandemie reagiert haben, könnten die Frühindikatoren jedoch verzögerte Vorhersagen liefern. Wenn rezessionäre Faktoren wieder stärker in den Fokus rücken als Inflation und Zinsen, wird es aus Anlegersicht wichtig sein, starke Unternehmen aus dem gesamten Stilspektrum in ihren Portfolios zu halten. Dabei sollte der Schwerpunkt auf Qualität, Dividenden und Nachhaltigkeit liegen, untermauert durch angemessene Bewertungen und langfristige strukturelle Trends. Da der Schuldenstreit und die Wahlen in den USA für eine höhere Volatilität sorgen dürften, ist eine gute Einschätzung der Margenresilienz im weiteren Jahresverlauf 2023 noch wichtiger. Zu den unserer Ansicht nach anhaltend attraktiven Themen gehören profitable Technologiewerte und selektive Industrietitel – zum Beispiel von Unternehmen, die von Reshoring, Automatisierung oder Klimalösungen profitieren. In einem von einer nachlassenden Inflation geprägten Umfeld sollten die realen Einkommen der Verbraucher ebenfalls steigen. Wie hoch dieser Anstieg ausfällt, wird jedoch davon abhängen, ob und wie stark die Wirtschaft wächst. Chinas traditionell antizyklische Wirtschaft bietet ebenfalls weiterhin selektive Anlagechancen.
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